Der Vagusnerv - wenn er aktiv ist, scheint er ein Wundermittel zu sein, mit dem sich unser Körper selbst heilen kann. Vagusübungen versprechen Heilung von allen möglichen Beschwerden. Doch was haben frühe Bindungsverletzungen und unser inneres Kind mit dem Vagusnerv zu tun? Und welche Rolle kann Reiki dabei spielen? Darüber möchte ich in diesem Blog schreiben.
Vor kurzem war ich mit dem Velo unterwegs, als ich schräg vor mir beobachtete, wie sich eine Jugendliche an einer Hausmauer auf den Boden setzte. Etwas schlaff und gleichzeitig angespannt sass sie da, bis sie ihre Kopfhörer hervorholte und sich diese auf die Ohren setzte. Sofort sah ich, wie sich etwas in ihr entspannte. Es schien, als ob sie sich gerade einen sicheren Raum für sich selbst geschaffen hätte, auch wenn sie in Wahrheit immer noch der Umwelt ausgesetzt war. Gefühlt war sie jetzt wohl aber geschützt und in Sicherheit. Auch ich fühlte mich bei ihrem Anblick gleich etwas entspannter, und gleichzeitig nahm ich eine gewisse Traurigkeit wahr, dass sie sich so abschotten muss, um sich sicher zu fühlen. Ein Thema, das ich ab und zu noch von mir selbst kenne.
Für uns alle gibt es vermutlich eine Ressource, die eine solche Wirkung auf uns hat und die wie ein sicherer Hafen für uns ist. Sei es ein Ort, ein Mensch, eine Pflanze, ein Tier, ein Gegenstand oder eben ein Lied... Fühlen wir uns sicher, ist unser Vagusnerv aktiv und wir entspannen uns. Doch was bedeutet es überhaupt, sich sicher zu fühlen? Und was haben der Vagusnerv und unser Bindungsmuster (und damit unser inneres Kind) damit zu tun? Auf diese Fragen werde ich in diesem Beitrag eingehen. Und natürlich möchte ich anhand der Polyvagal-Theorie auch Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen, wie wir uns dank sogenannter Vagusübungen selbst unterstützen können, gefühlte Sicherheit und damit einen Zustand von Entspannung herzustellen.
Hier findest du einen Überblick über den Inhalt dieses Blogs:
Polyvagal-Theorie und Vagusnerv - was ist das?
Vorab möchte ich sagen, dass ich trotz eingehender Beschäftigung mit der Polyvagal-Theorie immer noch ein paar Unklarheiten habe. Dennoch werde ich mein Bestes geben, um dir mein Verständnis dieser Theorie so gut wie möglich zu erläutern.
Dr. Stephen Porges, der die Polyvagal-Theorie 1995 vorstellte, begann ursprünglich in den 1960er-Jahren damit, zum Thema Atmung und Herzraten-Variabilität (=Unterschied in der Puls-Geschwindigkeit beim Einatmen und beim Ausatmen) im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit zu forschen. Er untersuchte die Zusammenhänge zwischen Herz und Hirn und wie sich diese gegenseitig beeinflussen. Aufgrund seiner Messungen kam er zum Schluss, dass es zwei Zweige des 10. Hirnnervs, dem sogenannten Vagusnerv, geben musste und nicht wie bis anhin geglaubt, nur einen einzigen. Diese beiden Zweige sind der dorsale (=hintere) und der ventrale (=vordere), wobei bis dato erst der dorsale Vagusnerv bekannt war. Porges' Folgerung war, dass sich der ventrale Zweig während der evolutionären Anpassung von den asozialen Reptilien zu den sozialen Säugetieren entwickelt haben musste: Entstanden ist die Polyvagal-Theorie, die ich nun etwas genauer beleuchten werde.
1. Verbindung als Überlebensstrategie
Unsere frühen Vorfahren, die Reptilien, kennen als Überlebensreaktion die Erstarrungsreaktion (= Immobilisation) und Flucht. Auf Angst reagieren sie also, indem sie sich nicht mehr bewegen oder fliehen. Ihre Mimik unterscheidet sich nicht, egal ob sie in Gefahr oder in Sicherheit sind. Sie leben alleine und andere Tiere gelten grundsätzlich als Gefahr, auch diejenigen der eigenen Spezies. Kleine Eidechsen schlüpfen aus dem Ei und sind sofort überlebensfähig und auf sich gestellt. Beziehung ist nicht wichtig fürs Überleben.
Die Entwicklung der Säugetiere brachte demgegenüber eine grosse Veränderung mit sich. Der Vorteil der Säugetiere war, dass sie sich in Herden zusammentun und gemeinsam agieren konnten. Bei Reptilien hätte dies sofort die Flucht- oder Erstarrungsreaktion (Flight/Freeze) hervorgerufen, bei Säugetieren jedoch nicht. Sie konnten kuscheln und nahe beieinander sein, ohne dass eine Angst-Reaktion hervorgerufen wurde. Genau so, wie wir heute mit anderen Menschen grundsätzlich intim sein können (dabei sind wir in der Immobilisation), ohne vor Angst zu erstarren. Möglich ist dies, weil sich unser autonomes Nervensystem während des Übergangs von den asozialen Reptilien zu den sozialen Säugetieren umfunktioniert hat. So konnten nun Verteidigungsstrategien unterdrückt und Sozialität zum Ausdruck gebracht werden. Oder anders gesagt: Verbindung wurde zur Überlebensstrategie der Säugetiere.
Wir alle kennen wohl Darwins "Survival of the fittest". Bei den Reptilien mochte das so stimmen. Reptilien sind Einzelgänger, sie brauchen niemanden und Beziehung ist wie gesagt nicht relevant fürs Überleben.
Bei Säugetieren kann Darwins Theorie auch noch auf eine andere Weise gedeutet werden, wie Theodosius Dobzhansky, Genetiker und Evolutionsbiologe, gezeigt hat:
"The fittest may also be the gentlest, because survival often requires mutual help and cooperation."
Die "Fittesten" könnten demnach also auch die Nettesten sein, da Überleben oftmals gegenseitige Hilfe und Kooperation verlangt. Der Unterschied zu den Reptilien ist ja, dass Säugetiere angefangen haben, in Gruppen zusammenzuleben. Und je besser sie kommunizieren konnten, desto besser konnten sie zusammenleben. So entstanden unterschiedliche Gesichtsausdrücke und schlussendlich auch die Sprache. Alles, was wichtig fürs Überleben war, entwickelte sich weiter. In den Gesichtern und Lauten der anderen Tiere konnten sie Hinweise auf Sicherheit finden: Ist der andere aggressiv oder mir wohl gesinnt? Dies schnell zu erkennen war für das Überleben in einer Gruppe sehr wichtig.
2. Gehirnentwicklung und Nervensystem
Wenn wir nun das autonome Nervensystem (= vegetatives Nervensystem) von Reptilien anschauen, sehen wir, dass dieses wie das unsere mit einem sympathischen und einem parasympathischen Zweig ausgestattet ist. Der Sympathikus steht dabei für Aktivierung (Kampf/Flucht) und der Parasympathikus einerseits für Entspannung und andererseits für die Erstarrungsreaktion.
In der entwicklungsbiologischen Übergangsphase von den asozialen Reptilien zu den sozialen Säugetieren muss es beim Parasympathikus eine Veränderung gegeben haben. War es bisher ein Vagusnerv, der Botschaften vom Körper ins Gehirn und umgekehrt gespeist hatte, gab es nun deren zwei. Genau das ist Stephen Porges in seiner Forschung aufgefallen, nämlich dass der parasympathische Zweig nun aufgeteilt ist: in den dorsalen und den ventralen Zweig.
Der dorsale Zweig entspricht dabei demjenigen von Reptilien und leitet die Erstarrungs-Reaktion (Freeze) ein. Verbunden ist er über den Hirnstamm mit den Organen bis unterhalb des Zwerchfells, also Milz, Magen, Leber, Gallenblase, Nieren und Darm.
Der ventrale Zweig ist derjenige, den wir generell meinen, wenn wir vom "wundersamen" Vagusnerv sprechen. Er bewirkt Entspannung im System und auch, dass wir uns in der Gegenwart anderer Menschen sicher fühlen können und nicht sofort in den Defensivmodus übergehen. Nur dank dem neuen, ventralen Zweig sind wir heute in der Lage, uns in der Gegenwart anderer wohlzufühlen. Er ist über den Hirnstamm mit dem Herzen, den Lungen, dem Hals und dem Gesichtsnerv verbunden, also grob gesagt mit allen Organen über dem Zwerchfell.
3. Die Bedeutung von Sicherheit
Sind wir im Überlebensmodus, sind entweder der dorsale Vagus (Freeze) oder der Sympathikus (Fight/Flight) aktiv. Währenddessen können wir mit anderen nicht in Beziehung treten. Es ist in diesem Moment für unser Überleben schlicht nicht relevant.
Porges hat in seiner Theorie den Begriff des Social Engagement System (SES) geprägt. SES ist die Struktur des Nervensystems, welche Beziehungen ermöglicht. Damit ist gemeint, dass wir uns sozial verhalten können, wir miteinander spielen können, uns in die Augen schauen können (ohne zu dissoziieren/innerlich wegzudriften). Dies ist erst der Fall, wenn unser ventraler Vagus aktiv ist.
Erst wenn wir uns wirklich in Sicherheit fühlen, treten wir aus dem Überlebensmodus raus. Sicherheit heisst aber nicht einfach, an einem sicheren Ort zu sein. Kinder in amerikanischen Schulen, die z.B. einen Stacheldraht rundherum haben, werden sich während des Unterrichts nicht automatisch sicher fühlen. Wie Gabor Mate sagt:
„Safety isn’t the absence of threat, it’s the presence of connection.“
Wir fühlen uns erst sicher bei Beziehung und nicht bei Abwesenheit von Gefahr. In diesem Zusammenhang hat Porges auch die Begriffe Neurozeption und Co-Regulation eingeführt. Neurozeption bedeutet, dass unser Körper ständig, auch während wir schlafen, die Umgebung auf Gefahren abcheckt. Welche Auswirkungen frühe Bindungsverletzungen auf unsere Neurozeption haben, werde ich im nächsten Kapitel erläutern. Co-Regulation bedeutet, dass wir als Babies und Kleinkinder von unseren ersten Bezugspersonen gespiegelt, verstanden und beruhigt, und somit reguliert werden.
Wenn wir nun als Kinder nie wirklich eine solide Co-Regulation oder sichere Beziehung zu unseren ersten Bezugspersonen, allen voran unserer Mutter, erfahren haben, haben wir stattdessen andere Strategien entwickelt, , um uns trotzdem ein Gefühl der Sicherheit vorzugaukeln, die wir als Erwachsene immer noch anwenden: wir bauen wie oben beschrieben einen Stacheldraht oder Mauern um uns. Eine gängige Überlebensstrategie ist es auch, die Sicherheit in den eigenen vier Wänden oder im Auto oder anderen äusseren Gegenständen zu suchen. Wir richten uns dann vielleicht unsere Wohnung möglichst schön ein oder brauchen immer grössere Wohnungen oder Häuser mit viel Land. Oder eben ein immer noch besseres, spezielleres Auto. Anstatt Sicherheit in unseren Beziehungen zu schaffen, schaffen wir Sicherheit im Aussen. Wir bauen uns eine Art sichere Gebärmutter nach. Doch die Krux ist: echte Sicherheit entsteht erst durch Beziehung. Darum brauchen wir immer noch mehr, bauen riesige Mauern um uns, brauchen mehr Raum um uns, nur um uns zu schützen.
4. Hierarchie der Reaktion
Wenn wir nun in eine herausfordernde Situation geraten, reagieren wir idealerweise in der folgenden Reihenfolge:
1. Neo-Kortex:
Unser ventraler Vagusnerv ist aktiv und unser Verstand hat die Führung. Wir können immer noch klar denken. Wir versuchen uns selbst und andere involvierte Personen zu regulieren. Unsere Kommunikation bleibt sozial.
Wenn die Unruhe in erster Linie von anderen Personen (oder Tieren) ausgeht, sind wir oft bereit, lieb und nachsichtig zu reagieren, in der Hoffnung, die Situation damit beruhigen zu können. Diese Reaktion wird auch „Fawn“ (= Rehkitz) genannt.
—> führt das nicht zu Erfolg oder es ist in dieser Situation schlicht nicht möglich, ändern wir unsere Strategie folgendermassen:
2. Lymbisches System:
Der ventrale Vagusnerv ist inaktiv und unser Sympathisches Nervensystem (oder der Sympathikus) aktiv. Unser Körper reagiert mit Mobilisation, er ist bereit für Kampf oder Flucht.
—> führt auch das nicht zu Erfolg oder es ist in dieser Situation schlicht nicht möglich, reagieren wir folgendermassen:
3. Stammhirn:
Unser dorsaler Vagusnerv ist an, der ventrale Vagusnerv ist inaktiv und wir reagieren mit Immobilisation (Totstellreflex/Freeze) oder Ohnmacht und Dissoziation. Diese dritte Reaktion führt zum grössten Schaden in unserem Körper. Der Körper hält dabei nur die grundlegendsten Funktionen aufrecht.
Interessant ist, dass die Entwicklung als Fötus (wie auch die evolutionsbiologische Entwicklung) genau umgekehrt ist. Als Fötus entwickelt sich zuerst das Stammhirn und damit die Erstarrungs-Reaktion. Bei unserer Geburt ist auch schon das Lymbische System (Kampf/Flucht) bereit, sodass wir mittels Schreien, Quengeln und Weinen unsere Bedürfnisse nach Nahrung und Liebe befriedigt bekommen. Unser Neo-Kortex, der Verstand, entwickelt sich erst später. Wir können uns also rein biologisch als Babies gar nicht selbst beruhigen. Hört ein Baby nach langem Schreien irgendwann auf, ist das KEIN Akt der Selbstberuhigung, sondern ein Aufgeben und damit eine Reaktion des Stammhirns (Freeze). Es ist auch kein braves und gut erzogenes Kind, sondern schlicht verzweifelt und sackt in sich zusammen. Es resigniert. Eben diese Resignation ist häufig der Ursprung späterer Depressionen.
Ähnliche Freeze-Reaktionen können schon auf der Ebene von einzelnen Zellen beobachtet werden. In diesem Video über das Protoplasma (stellvertretend für die Beziehungen unter Menschen) zeigt William Seifritz, wie dieses mit anderen Protoplasmen interagiert und was passiert, wenn es zu lange in der Freeze-Situation verbleibt. Protoplasma ist eine alte Bezeichnung für die innere, gelartige flüssige Substanz in allen lebenden Zellen. Vitalisten (Vertreter einer philosphischen Leere) gingen davon aus, dass im Protoplasma eine sogenannte vis vitalis (Lebenskraft) enthalten sei, die das Wesen der Lebewesen ausmache.
Was hat der Vagusnerv mit unserem inneren Kind zu tun?
Unser inneres Kind - es ist die Summe all unserer Erfahrungen, die wir als Kinder gemacht haben. Sei es das Baby, das Windeln-Wechseln als etwas Unangenehmes erlebte. Oder aber auch das Vorschulkind, das es liebte, Zeit auf der Schaukel zu verbringen. All diese Erfahrungen und Erinnerungen sind in unserem Unterbewusstsein und unserem Körper gespeichert und bestimmen unser heutiges Leben massgeblich mit.
Oftmals trägt das innere Kind auch tiefe Verletzungen in sich, die wir als Erwachsene durch innere Zuwendung nach und nach heilen können.
Heilung unseres inneren Kindes bedeutet, dass wir es nähren und trösten für jede Situation, in der es nicht gesehen wurde in seinen Bedürfnissen. Diesen Prozess können wir zum Beispiel mit geführten Meditationen unterstützen. Hier findest du eine Meditation von Robert Betz, die ich sehr schön finde. Die Beschäftigung mit unserem inneren Kind ist ein sehr wertvoller und berührender Teil unseres Heilungsprozesses. Sie macht uns bewusst, was uns beim Aufwachsen gefehlt hat und hilft uns, Mitgefühl für uns selbst zu entwickeln.
Wie hängen unser Körper und unser inneres Kind zusammen?
Auf der körperlichen Ebene zeigt sich unser verletztes inneres Kind in einem chronisch dysregulierten Nervensystem. Wenn bereits während der Schwangerschaft oder in den ersten Lebensmonaten kein sicherer Kontakt zur Mutter da war, entwickelt das Kind ein unsicheres Bindungsmuster. Es entscheidet sich entweder dafür, seine Würde zu behalten und sich nicht mehr für die Verbindung zur Mutter zu öffnen (unsicher-vermeidend gebunden). Oder, falls es doch ein gewisses Mass an Verbindung bekommt, entscheidet es sich dafür, seine Würde aufzugeben, um eine (zumeist grenzüberschreitende) Verbindung aufrechtzuerhalten (unsicher-ambivalent gebunden).
Diese Entscheidung geschieht unbewusst und ist für das Überleben des Säuglings entscheidend.
Die wenigsten Menschen sind meiner Ansicht nach sicher gebunden aufgewachsen, sondern kommen in ihrem Heilungsprozess dorthin (=learned secure attachment). Unser Bindungsmuster lässt sich auch einem Spektrum zwischen vermeidend und ambivalent verorten (siehe Grafik unten). Je mehr wir unsere emotionalen Schutzmauern abbauen, desto mehr bewegen wir uns in Richtung des gegensätzlichen Poles. Auf dem Heilungsweg entdeckt dabei zum Beispiel ein vermeidend gebundener Mensch seine ambivalenten Eigenschaften (wird also vielleicht anhänglich und will mit anderen verschmelzen), während ein ambivalent gebundener Mensch seine Autonomie entdeckt.
Körperlich ist ein Kind ständig einem hohen Stresspegel ausgeliefert, wenn es sich jenseits des grünen Bereichs auf dem Bindungstypen-Spektrum befindet. Diesen Stress hält es nur aus, indem es sich vom Körper und seinen Gefühlen abschneidet. Mithilfe der Polyvagal-Theorie können wir zeigen, welche Auswirkungen dies auf unseren Körper bis heute hat.
Auswirkungen eines unsicheren Bindungsstils auf unseren Körper
Verlust der natürlichen „Verbindung“ als Überlebensstrategie
Die Verbindung zu anderen Menschen ist eine grundlegende Überlebensstrategie von Säugetieren. Bei einer unsicheren Bindung zu den ersten Bezugspersonen wird diese jedoch zugunsten des reinen Überlebens geopfert. Fehlt uns als Säuglinge ein Gefühl von Sicherheit, reagieren wir auch als Erwachsene oft mit Kampf, Flucht oder Erstarren (Dissoziation), anstatt uns in der Gegenwart anderer sicher zu fühlen.
Die Bedeutung sicherer Bindung für die Entwicklung des Nervensystems
Eine sichere Bindung entsteht laut Stephen Porges durch zwei entscheidende Phasen:
Co-Regulation (Social Engagement Phase)
In dieser Phase beruhigt sich das Baby durch die sozialen Signale der Bezugsperson, wie Gesichtsausdrücke, Gesten, Tonfall und Reziprozität (z. B. wenn die Mutter dem Finger des Babys folgt). Diese Angesicht-zu-Angesicht-Interaktionen vermitteln dem autonomen Nervensystem Sicherheit und fördern die Entwicklung des Social Engagement Systems (SES), das mit der Aktivierung des ventralen Vagusnervs einhergeht.
Immobilisation ohne Angst (Intimität)
Diese Phase umfasst körperliche Nähe ohne Angesicht-zu-Angesicht-Kontakt, wie z.B. Umarmungen. Sicherheit ist hier die Voraussetzung, um Immobilität ohne Dissoziation zu erleben. Fehlt Phase 1, wird auch Intimität oft mit Angst oder Dissoziation verbunden.
Fehlen diese Phasen in der frühen Kindheit, werden Verteidigungsstrategien wie Kampf, Flucht oder Erstarren verstärkt. Wir übersehen Zeichen von Sicherheit (freundliche Gesten, einladende Gesichtsausdrücke) und begegnen anderen mit Misstrauen. Dies kann zu einer erlernten Hilflosigkeit führen, da wir uns nie sicher genug fühlen, um angemessen zu reagieren und Selbstwirksamkeit zu entwickeln.
Umgekehrte Reaktionsreihenfolge bei Gefahr
Im letzten Kapitel habe ich die natürliche Reaktionsreihenfolge in einer Gefahrensituation beschrieben:
Fawn (Beschwichtigen)
Fight/Flight (Kampf/Flucht)
Freeze (Erstarren/Dissoziation)
Bei einem unsicheren Bindungsstil kehrt sich diese Reihenfolge jedoch um: Wir springen oftmals direkt in die Freeze-Reaktion, was unsere Fähigkeit, uns im Kontakt mit anderen sicher zu fühlen, stark beeinträchtigt. Grund dafür ist ein verengtes Stresstoleranzfenster (Window of Tolerance, WOT). Dieses beschreibt den emotionalen Bereich, in dem wir effektiv mit Stress umgehen und mit anderen interagieren können. Ist das Fenster durch mangelnde Bindung in der frühen Kindheit klein, geraten wir schnell in übermäßige Erregung (Kampf/Flucht) oder Untererregung (Freeze/Dissoziation).
Ein Ziel unseres Heilungsprozesses ist es, dieses Fenster zu weiten, sodass wir weniger getriggert werden und länger im Bereich der Regulation bleiben.
Einfluss eines tiefen Vagustonus auf Beziehungen
Ein unsicherer Bindungsstil führt oft zu einem niedrigen Vagustonus, der eine schwache Aktivierung des ventralen Vagusnervs anzeigt. Dies beeinträchtigt unsere Fähigkeit, gesunde zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen.
Berührung:
Ohne sichere Co-Regulation und Intimität in der Kindheit wird körperlicher Kontakt oft als Gefahr empfunden. Intimität ohne Angst ist kaum möglich, und Dissoziation tritt häufig auf, sei es bei Massagen oder im sexuellen Kontext. Eine als angenehm empfundene Berührung setzt eine gleichzeitige Aktivierung des ventralen(=wach) und dorsalen (=entspannt) Vagus voraus.
People Pleasing/Fawning:
Soziales Verhalten kann zu einer Überlebensstrategie werden. Beispielsweise entwickeln wir ein Helfersyndrom oder versuchen, es allen recht zu machen, obwohl wir dabei unsere eigenen Bedürfnisse ignorieren. Dies dient der Aufrechterhaltung eines minimalen Gefühls von Sicherheit, selbst auf Kosten unserer Selbstfürsorge.
Körperliche Auswirkungen eines niedrigen Vagustonus
Der Vagusnerv, der fast alle Organe und Muskeln beeinflusst, spielt eine zentrale Rolle bei der Körperregulation. Ein niedriger Vagustonus durch unsichere Bindung hat daher weitreichende Konsequenzen:
Augen:
Der ventrale Vagus beeinflusst die Muskulatur rund um die Augen. Bei Aktivierung entspannen sich diese Muskeln, was zu einem weichen, aufmerksamen Blick führt. Fehlt diese Aktivierung, bleiben die Muskeln angespannt, was den Blick verhärtet. Auch Augenkontakt wird gemieden, da er instinktiv als bedrohlich empfunden wird.
Ohren:
Im Überlebensmodus nehmen wir tiefe Töne überbetont wahr, da diese potenzielle Gefahren signalisieren. Dadurch können wir Umgebungsgeräusche schlechter ausblenden, was zu einer Überflutung durch Reize und erhöhten Stress führt. Hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Bindungsverletzungen.
Hals und Atmung:
Ohne Aktivierung des ventralen Vagus wird der Hals eng, die Atmung flach, und die Stimme kann blockiert wirken. Diese Enge kann sich auch in häufigen Halsschmerzen oder Entzündungen äussern.
Verdauung:
Der dorsale Vagus ist mit allen Verdauungsorganen verbunden. Seine Überaktivierung durch chronischen Stress kann zu Beschwerden wie Reizdarm oder Reizmagen führen, da die Balance zwischen Sympathikus (Kampf/Flucht) und Parasympathikus (Erholung) gestört ist.
Heilung und Erweiterung des Stresstoleranzfensters
Die Arbeit am Nervensystem, beispielsweise durch somatische Übungen, achtsame Berührung oder therapeutische Begleitung, kann helfen, den Vagustonus zu steigern und das Stresstoleranzfenster zu erweitern. Ziel ist es, Sicherheit und Verbindung neu zu lernen, um körperlich und emotional stabilere Beziehungen zu führen.
Reiki als Unterstützung für den Vagusnerv und unser inneres Kind
Eine Reiki Behandlung beruhigt unser autonomes Nervensystem und versetzt uns in den ventral-vagalen Zustand, in dem Entspannung eintritt und in dem Heilung geschehen kann. Aber Reiki als schlichte Vagusübung zu bezeichnen, wäre viel zu kurz gegriffen.
Der Beziehungsaspekt in der Reiki Behandlung
Bevor eine Reiki Behandlung beginnt, ist es für mich wichtig, der Klientin Zeit zu geben, anzukommen. Zeit, um sich im Raum zu orientieren, sodass das autonome Nervensystem idealerweise bereits registriert, dass dieser Ort sicher ist. Ein kurzes Gespräch hilft weiter, um dem Nervensystem auch auf Beziehungsebene Hinweise für Sicherheit zu geben (nette Stimme der Praktikerin, freundlicher Blick, keine übergriffigen Handlungen, etc.). So kann der Übergang auf die Massageliege achtsam gestaltet werden. Ziel ist es, dass bereits so viel Sicherheit im System der Klienten vorhanden ist (=oberer Teil des WOT), sodass sie bei Berührung nicht gleich in Dissoziation gehen. Auch Einschlafen kann eine Form von Dissoziation sein, weshalb ich immer genau hinspüre, in welchem Nervensystem-Zustand die Klientin ist. Ist die Müdigkeit einfach ein Zeichen für eine enorme Erschöpfung und sie kann endlich loslassen? Oder ist diese Form des Aus-dem-Körper-Gehens eine Überlebensstrategie, die eigentlich unangenehme oder gar überwältigende Berührung auszuhalten?
Genau darum ist es für mich sehr wichtig, während der gesamten Zeit langsam zu handeln und das Nervensystem im Blick zu halten, selbst wenn Reiki an sich bereits eine sehr sanfte Behandlungsmethode ist.
Chakren und der Vagusnerv
Die unteren drei Chakren, die sogenannten Überlebenschakren, sind mit dem dorsalen Vagusnerv (verbunden mit den Organen unterhalb des Zwerchfells) verbunden. Durch die Reiki Energie („Rei“ „Ki“ = Universelle Lebensenergie) und auch durch die sanfte Berührung kann sich unser autonomes Nervensystem vom dorsalen Parasympathikus (Erstarrung) oder vom Sympathikus (Kampf, Flucht) in den ventral-vagalen Zustand bewegen. Wir kommen dann in einen Zustand der Immobilisation ohne Angst, während dem der ventrale und auch der dorsale Vagusnerv aktiv sind. Betrachten wir das Window of Tolerance, befinden wir uns nun tendenziell am unteren Ende des grünen Bereichs.
Wieso mit Berührung arbeiten?
Der Vagusnerv ist ein bidirektionaler Nerv, der Signale sowohl vom Gehirn zum Körper als auch vom Körper zum Gehirn sendet. Die erstaunliche Tatsache, dass etwa 80% der Vagusnervenfasern vom Körper zum Gehirn verlaufen (= afferent), ermöglicht es uns, den Körper zu nutzen, um das Gehirn zu beruhigen. Dieser Aspekt wird besonders wichtig, wenn wir die Verarbeitung von frühen Bindungsverletzungen durch den Vagusnerv betrachten.
80% der Informationen im Vagusnerv gelangen also von unten nach oben vom Körper zum Gehirn, während nur 20% von oben nach unten vom Gehirn zum Körper gelangen. Dies macht deutlich, dass wir, wenn wir den Körper und seine Sprache der Empfindungen nicht einbeziehen, versuchen, emotionale Verletzungen mit nur 20% der verfügbaren Informationen zu verarbeiten - ein erheblicher Verlust von 80% relevanter Informationen. Kurz gesagt: Worte allein bedeuten wenig. Es ist darum sinnvoll, nonverbale Signale in die Therapie zu integrieren. Davon ist die direkte und spürbare Erfahrung von Berührung die effektivste Methode, um uns in einen ventral-vagalen bzw. regulierten Zustand zurückzuführen.
Reiki und das Innere Kind
Reiki beruhigt aber nicht nur. Reiki zielt darauf ab, blockierte Energie im Körper freizusetzen und die natürliche Flussbahn wiederherzustellen. Dieser Prozess geht oft tiefer als nur auf körperlicher Ebene, da sich in den Blockaden oft implizite Erinnerungen und emotionale Spannungen verbergen. Die Berührung während einer Reiki-Behandlung berührt die tiefsten Schichten unseres Seins und kann Erinnerungen und Gefühle freisetzen, die lange Zeit vergraben waren.
Beispielsweise kann es sein, dass unser Zwerchfell chronisch verspannt ist und die Energie (= Qi) und auch das Blut nicht optimal fliessen können. In unserer Kindheit hatte diese Verspannung den Sinn, dass Emotionen nicht mehr bis zum Gehirn kommen, weil es so schmerzhaft war, diese immer wieder zu durchleben. So haben wir unseren Kopf vom Körper „abgetrennt“. Durch die sanfte Auflösung der Stagnation können auch Emotionen wieder bis zum Gehirn fliessen und es kommen Gefühle zum Vorschein, die mit der Stagnation verbunden waren. Darum ist bei Reiki nicht nur die Behandlung wichtig, sondern auch die Bereitschaft zur inneren Arbeit bzw. Veränderung der Lebensgewohnheiten. Ohne die Aufarbeitung der mit der Stagnation verbundenen Themen kann vielleicht ebenfalls eine Besserung eintreten, sie wird jedoch nicht von Dauer sein, wenn die Ursache nicht gelöst ist.
Vagusübungen für mehr innere Sicherheit
Hier möchte ich nun zu den vielversprechenden Vagusübungen kommen. Im Internet finden sich allerlei Methoden, um den ventralen Ast des Vagusnervs zu aktivieren. Im Folgenden liste ich jene auf, die mir am meisten entsprechen.
Arbeit mit unserer Stimme:
Wie unsere Stimmung ist, erkennen wir auch an unserer Stimme: ist sie kratzig, der Hals eng, kräftig? Da der ventrale Vagusnerv an den Stimmbändern und der Speiseröhre entlang verläuft, können wir für dessen Regulierung auch unsere Stimme nutzen. Die Vibration kommt dabei im Vagusnerv an und aktiviert unser soziales Nervensystem. Wir können also summen, wie beim Yoga (Meditation) Om singen, gurgeln, Flöte spielen oder singen. Gemeinsames Singen z.B. im Chor verstärkt diesen Effekt. Es stimuliert die Freisetzung von Oxytocin, dem Bindungshormon, und vermittelt uns ein Gefühl der Geborgenheit. Das hat einen doppelt positiven Effekt auf unsere Stimmung und unser Wohlbefinden.
Mit diesen Übungen aktivieren wir gleich auch unser Halschakra, sodass dieses mehr Energie aufnehmen und in Hals, Mund, Kiefer und die Schultern verteilen kann.
Atmen:
Die Atemübung 4-5-6 beruhigt unser autonomes Nervensystem und erhöht die Herzratenvariabilität.
_4 Sekunden einatmen, 5 Sekunden Atem anhalten, 6 Sekunden ausatmen
Probiere diese Übung 5-10 Minuten lang aus und beobachte dann, was sich verändert hat.
Sozialer Kontakt:
Eine kurze Nachricht an eine enge befreundete Person aktiviert das soziale Nervensystem, holt uns aus dem Freeze oder Fight/Flight raus und aktiviert so den ventralen Vagusnerv. Als Antwort sollte dabei abgemacht werden, dass es reicht, wenn diese Person signalisiert, dass sie die Nachricht gelesen hat. Das reicht bei einer engen Freundschaft bereits, um das Nervensystem zu beruhigen.
Orientierung:
Orientiere dich langsam im Raum und benutze dafür deinen gesamten Oberkörper. Du kannst ebenso gut Dinge benennen, z.B. blaue Vase, weisser Teppich, etc.. Irgendwann wirst du automatisch einen tiefen Atemzug nehmen, der anzeigt, dass in deinem System gerade ein sogenannter parasympathischer Shift stattfindet. Wenn wir uns das Window of Tolerance anschauen, zeigt dieser Atemzug, dass du von über oder unter dem WOT wieder im grünen Bereich angekommen bist, selbst wenn du bewusst kaum eine Änderung wahrnimmst.
Ehrliches Mitteilen:
Ehrliches Mitteilen ist eine Kommunikationsmethode, die der "Gewaltfreien Kommunikation" ähnlich ist. Das Setting ist normalerweise so, dass man sich in einer Gruppe in einem sicheren Rahmen austauscht. Jede:r hat dabei 10 Minuten Zeit, sich ehrlich mitzuteilen, während der die anderen Teilnehmer:innen einfach nur zuhören. Die ganze Zeit über schaut man sich gegenseitig in die Augen. Es ist auf den ersten Blick eine ziemlich starre Vorgabe, die aber, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, sehr viel bewirken kann. Es entsteht ein echter Kontakt.
Wenn du nun also über- oder untererregt bist, kannst du das ehrliche Mitteilen nutzen, um wieder in den grünen Bereich des WOT zu kommen. Es ist nicht sinnvoll, mit deinem Chef etc. gleich so zu sprechen, weil dies kein sicherer Ort ist. Entgegen der Empfehlung, dass EM nur mit jemand Anderem praktiziert werden soll, habe ich die Erfahrung gemacht, dass es auch für mich alleine sehr hilfreich ist.
Ich benenne dabei alles, was in mir vorgeht auf der Körper-, Gefühls- und Verstandesebene:
Körper:
In meinem Kopf spüre ich .....
Ich spüre in meinem Bauch....
Gefühle:
Ich fühle Wut/Freude/Trauer…..
Gedanken:
Mein Kopf denkt gerade, dass.....
Da ist der Gedanke/die Idee, dass....
Erfahrungsgemäss kann es dabei anfangs schwierig sein, diese drei Ebenen zu unterscheiden. Dementsprechend braucht es etwas Übung und Zeit - versuche, lieb mit dir zu sein und gib dir diese.
Längerfristige Ansätze
- polyvagal-informierte Therapien, z.B. TRE, Yoga, Taichi, Qigong, etc.
Mithilfe dieser Praktiken können wir den Vagusnerv ebenfalls aktivieren. Im Alltag werden wir jedoch ziemlich sicher nicht entspannter auf eine Kritik reagieren. Unser Window of Tolerance wird also nicht erweitert. Positiv an diesen Praktiken ist jedoch, dass sie unsere Körperwahrnehmung stärken und wir mehr im Körper landen.
Falls du weitere Vagusübungen kennst, die für dich gut funktionieren, kannst du diese gerne unten in die Kommentar-Spalte schreiben.
Safety IS the therapy!
In diesem Blog haben nun wir die Verbindung zwischen der Polyvagal-Theorie, dem Vagusnerv und unserem inneren Kind erforscht. Reiki, als unterstützende Praxis, und gezielte Vagusübungen können uns helfen, einen Raum der inneren Sicherheit zu schaffen. Vor allem geht es aber längerfristig darum, Sicherheit im Kontakt mit einer anderen Person zu erleben. Denn der Schmerz hat im Kontakt mit unseren ersten Bezugspersonen begonnen, und er darf nach und nach enden, indem wir es wagen, uns trotz allem wieder auf Kontakt mit einer anderen Person einzulassen.
Doch Veränderung kann nur stattfinden, wenn der ventrale Vagusnerv aktiviert ist und wir uns in einem Zustand der Sicherheit befinden. Damit wird die Schaffung eines sicheren Rahmens zu einer Grundvoraussetzung für Heilung und Wachstum. Sei es in einer therapeutischen Beziehung oder in einer intimen Paarbeziehung. Oder wie Porges sagt:
„Safety IS the therapy!“
Möge dieses Wissen euch auf eurem Weg der Heilung begleiten, und möge es euch darin unterstützen, euer inneres Kind zu heilen.
Quellen:
Online Kurs: Polyvagal Theory: Neural Exercises for Safety and Connection with Dr. Porges - www.embodiedphilosophy.com
Foundation Training NeuroAffective Touch, Aline LaPierre
Buch: Vagusschlüssel zur Traumaheilung - Gopal Norbert Klein
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